Der Schlüssel zum selbstbestimmten Wohnen

Porträt Urs Schnyder

Urs Schnyder hat eine Muskeldystrophie. Zusammen mit seiner Partnerin, welche ebenfalls einen Rollstuhl benötigt, lebt er in einer Wohnung in der Nähe von Bern. Möglich ist das durch Leistungen für persönliche Assistenz.

Interview: Esther Banz, Foto: Markus Schneeberger 

Procap: Urs, du arbeitest bei Procap unter anderem als Fachberater Wohnen. Für dieses Gespräch besuchen wir dich zu Hause. Hier in Münchenbuchsee wohnst du mit deiner Partnerin Susanne in einer 4,5-Zimmer-Wohnung. Ist es eine gute Wohnung?

Urs Schnyder: Ja, sie ist hindernisfrei und geräumig, und wir erreichen sie mit einem Lift. Uns ist wohl hier. Die passenden Räume sind aber nur die eine Voraussetzung für selbstbestimmtes Wohnen – was es ausserdem braucht, ist die persönliche Assistenz. Ich habe sie, seit diese Leistung 2012 eingeführt wurde.

Welche Erfahrungen hast du mit der persönlichen Assistenz gemacht?
Vorwiegend positive. Allerdings war es in der Anfangszeit einfacher, Assistenzpersonen zu finden. Heute herrscht ein Pflegepersonalnotstand, den auch wir spüren. Assistenz bedeutet Nacht- und Sonntagsarbeit, das ist nicht gefragt. Um das Risiko eines Ausfalls klein zu halten, verteile ich deshalb das Pensum, das mir zur Verfügung steht, auf mehrere Personen. Leider ist der Beruf der Behindertenassistenz noch zu wenig bekannt. Es ist eine Tätigkeit, die viel Freude machen kann, weil die menschlichen Aspekte mehr Platz haben und die Assistenzperson und die Assistenznehmenden meistens ein eingespieltes Team sind. Ich selbst arbeite zudem gerne mit Leuten zusammen, die keine Pflegeausbildung haben, und bilde sie dann selbst aus.

Wer eine persönliche Assistenz in Anspruch nimmt, ist auch Arbeitgeber*in. Was bedeutet das?
Zunächst braucht es viel Wissen, etwa zu Gesetzen und Versicherungen. Die Gewerkschaften schauen mittlerweile genau hin, das ist auch gut. Arbeitgeber*in sein ist ein steter Lernprozess. Inzwischen haben wir Betroffene uns im Verband InVIEdual organisiert. Eines unserer Ziele ist ein Gesamtarbeitsvertrag für Assistenzpersonen. Ein anderes der Kampf gegen die zunehmende Bürokratie.

Was ist in deinen Augen unnötige Bürokratie?
Ein persönliches Beispiel: Susanne und ich beziehen beide Assistenzleistungen von denselben Angestellten. Kürzlich verlangte die IV, dass wir Rapportzettel ausfüllen – damit es zu keinen Doppelzahlungen kommt. Sie will so verhindern, dass eine Assistenzperson doppelt für Arbeiten entschädigt wird, welche sie in ihrer Schicht leistet, respektive dass wir missbräuchlich zu viel Arbeitszeit aufschreiben. 

Das erscheint absurd.
Ja. Denn wir sind selbst daran interessiert, das Geld für die persönliche Assistenz so effizient wie möglich einzusetzen. Aber wir müssen geduldig sein. Das System in der Schweiz ist noch sehr heimorientiert. Bis sich das Wohnen mit persönlicher Assistenz etabliert hat und selbstverständlich wird, braucht es Zeit. 

Erhalten grundsätzlich alle, die selbstbestimmt wohnen wollen, dafür Assistenzbeiträge?
Nein. Leider gibt es grosse Lücken. Unsere Vision ist, dass alle, die für das selbstständige Wohnen eine persönliche Assistenz brauchen, diese auch finanziert erhalten. Und dass es nur noch einen Kostenträger auf nationaler Ebene gibt und bürokratische Hürden abgebaut werden. Bisher werden separat Bedarfsabklärungen für den Bund und für den jeweiligen Kanton gemacht: Das ist eine unnötige Verdoppelung. Und ganz wichtig wäre, dass die Betroffenen bei der Weiterentwicklung des Assistenzbeitrags viel mehr einbezogen würden.

Weshalb ist die Schweiz so stark heimorientiert?
Zum einen, weil die Kantone den Auftrag haben, für jede Person, die einen Heimplatz benötigen könnte, auch einen zur Verfügung zu stellen. Zudem beobachte ich oft, dass Angehörige für ihre Schützlinge eher Heime befürworten. Die meisten Menschen mit Behinderungen würden hingegen das Leben in einer Privatwohnung bevorzugen, wie es Menschen ohne Behinderungen auch tun. Die Schweiz hat diesen Inklusionsschritt noch nicht vollzogen. Viele wissen auch nicht, dass in unserem Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 die Selbstbestimmung gar nicht enthalten ist. Eine persönliche Assistenz in der Privatwohnung ist aber der Schüssel zur Inklusion. Die Annahme der Inklusions-Initiative wäre ein erster Schritt.

Was würde die Annahme der Inklusions-Initiative für das selbstbestimmte Wohnen bedeuten?
Mit einer Subjektfinanzierung statt der noch immer weit verbreiteten Objektfinanzierung käme das Geld direkt zu uns Betroffenen. Wir würden selbst bestimmen, ob wir die Pflege- und Assistenzleistungen zu Hause in Anspruch nehmen oder in einem Heim. Das wäre die Voraussetzung für eine echte Wahlfreiheit. 

Für dich und Susanne ist diese Wahlfreiheit Realität. Das gilt aber nicht für alle.
Nein, denn die Beiträge, die in der Schweiz gesprochen werden, reichen nicht in jedem Fall aus. Es gibt beispielsweise eine Obergrenze bei der Finanzierung. Personen mit schweren Behinderungen, die einen höheren Assistenzbedarf haben als etwa meine Partnerin und ich, erhalten nicht, was sie bräuchten. Und dann gibt es weitere Situationen, die nicht finanziert werden. Dazu gehören die Ferienassistenz, ein Zusatzzimmer für die Assistenzperson oder Leistungen für den erhöhten Assistenzbedarf bei einer Rehabilitation zu Hause nach einem Spitalaufenthalt. 

www.inviedual.ch Link öffnet in neuem Fenster.