Eine Behinderung ist etwas ganz Normales

Zeichnung eines binden Vaters der seine kleine Tochter auf den Schultern trägt und die ihm mit dem Arm die Richtung zeigt.

Kinder können sich an alles anpassen, solange man ihnen Liebe gibt. Fragt man die Kinder von Menschen mit Behinderungen nach ihrer Kindheit, überwiegen gute Erfahrungen und positive Erinnerungen.

Text: Ariane Tripet, Illustrationen: Reto Crameri

Wenn Menschen mit Behinderungen Kinder bekommen, sind sie oft mit Vorurteilen aus ihrem Umfeld konfrontiert. Häufig hören wir bei Procap von Betroffenen, dass ihre Fähigkeit, die Elternrolle gut auszuüben, infrage gestellt wird. Hinter diesen Reaktionen verbergen sich in der Regel Ängste und Vorbehalte. Mit der Begründung, es gehe um das Wohlergehen des Kindes, sind Eltern mit Behinderungen immer wieder Fragen ausgesetzt, die man Eltern ohne Behinderungen nie stellen würde. Hinzu kommt, dass Eltern mit Behinderungen wesentlich weniger Wohlwollen, Unterstützung und Informationen erhalten als Eltern von Kindern mit Behinderungen. Und kaum jemand fragt nach den Erfahrungen und Perspektiven der betroffenen Kinder.

Wir wollten mehr darüber wissen, wie jene Menschen, welche mit einem Elternteil mit Behinderung aufgewachsen sind, die Situation einschätzen, denn es gibt in der Schweiz kaum Studien, Artikel oder Plattformen, die sich diesem Thema widmen. Das Procap Magazin traf sich deshalb für einen Austausch mit vier Frauen aus der Westschweiz, welche verschiedenen Generationen angehören. Die Familiennamen sind der Redaktion bekannt.

Vier unterschiedliche Biografien

Morgane ist 24 Jahre alt. Als sie eineinhalb Jahre alt ist, hat ihr Vater einen Motorradunfall und bleibt querschnittsgelähmt. Ein Jahr später stirbt ihre Mutter unerwartet. Zu diesem Zeitpunkt lebt die Familie in Frankreich in der Nähe der Grosseltern, welche sehr präsent sind. Dann lernt ihr Vater eine Schweizerin kennen. Als Morgane 8 Jahre alt ist, ziehen sie in die Schweiz. Ihr Vater ist ein versierter Handwerker und arbeitet im Behindertenwesen im Bereich der Sensibilisierung.

Solange ist 50 Jahre alt. Ihre Mutter wird mit einer cerebralen Behinderung geboren und benötigt Stöcke zum Gehen. Gegen den Widerstand ihres Umfeldes bekommt sie zwei Kinder. Solange und ihr Bruder verleben eine glückliche Kindheit in einem Dorf im Kanton Neuenburg. Da sich ihre Mutter stark in einer Procap-Sektion engagiert, verkehren auch die Kinder in der «Behindertenszene». Solange und ihre Mutter stehen sich bis heute sehr nahe.

Moïra ist 23 Jahre alt. Sie wird von ihrer alleinerziehenden Mutter aufgezogen, welche im Alter von 14 Jahren an Polyarthritis erkrankte. Diese chronische Krankheit hat zur Folge, dass Moïras Mutter eine Hüftprothese hat und sehr viele Operationen benötigt. Die Mutter arbeitet als Krankenschwester und verbringt so viel Zeit wie möglich mit ihrer Tochter. Die beiden haben eine sehr innige Beziehung. Als Moïra 14 Jahre alt ist, ziehen sie in den Kanton Neuenburg. Ein Jahr später wird bei der Mutter eine erste Krebserkrankung festgestellt, von der sie sich jedoch erholt. Einige Jahre später folgen zwei weitere Krebsdiagnosen. Sie stirbt im Jahr 2022.

Stéphanie ist 45 Jahre alt. Ihr Vater erkrankte als Baby an Polio. Lange Zeit war er auf Stöcke angewiesen. Seit einigen Jahren benötigt er nun einen Rollstuhl. Durch das Engagement ihres Vaters für seine Procap-Sektion haben auch Stéphanie und ihre Schwester viel Zeit mit Menschen mit Behinderungen verbracht. Bis heute engagiert sie sich gemeinsam mit ihren beiden Töchtern im Teenageralter bei Veranstaltungen der Sektion.

Procap: Hattet ihr zu irgendeinem Zeitpunkt das Gefühl, dass eure Eltern anders sind?

Morgane: Ich habe meinen Papa nie anders als mit seiner Behinderung gekannt oder einen Unterschied zu anderen Eltern wahrgenommen. Ich habe seine Behinderung auch nie als etwas erlebt, das ich erdulden musste. Eigentlich habe ich mir nie Fragen gestellt. Es war einfach so.

Solange: Mir geht es gleich. Als ich geboren wurde, hatte meine Mutter ihre Behinderung bereits. In der Schule gab es auch keine Bemerkungen dazu oder Spott. Ich habe nicht gelitten. Im Gegenteil. Die Leute waren ziemlich solidarisch. Später haben wir dann schon Unterschiede wahrgenommen, aber für mich war es trotzdem unbewusst normal. Ich habe zum Beispiel zusammen mit Menschen mit Behinderungen in einem Kurs des damaligen Schweizerischen Invalidenverbands (heute Procap) schwimmen gelernt.

Stéphanie: Ich erinnere mich, dass ich in der Schule einmal gefragt wurde, ob es nicht schwierig sei, einen Vater mit einer Behinderung zu haben, und ich sagte «äh, nein». Ich habe nicht einmal verstanden, wovon sie sprechen. Für mich ist die Behinderung meines Vaters etwas ganz Normales, und ich empfinde es für mich und auch für meine Töchter als bereichernd, dass wir an den Sektionstreffen teilnehmen konnten und können. Es gibt viele Jugendliche, die sich im Umgang mit Menschen mit Behinderungen unwohl fühlen. Ich denke, man muss lernen, mit Unterschieden zu leben.

Moïra: Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass es Unterschiede gab – ausser vielleicht beim Skifahren (lacht). Als ich klein war, fanden es die Leute komisch, dass ich nicht Ski fahren konnte. Aber meine Mutter war viel zu Fuss unterwegs und nahm auch an Schulausflügen teil. Ihre Gehstöcke brauchte sie nur nach den Operationen. Zwar konnte sie manchmal morgens nicht aufstehen und hat sich oft die Hüfte verrenkt. Aber sie konnte gut mit diesen Dingen umgehen, sodass mein Leben durch ihre Krankheit nicht allzu sehr beeinträchtigt wurde.

Habt ihr euch als Kinder aufgrund der Behinderung eurer Eltern anders verhalten?

Stéphanie: Wenn wir mit Papa spazieren gingen, wussten wir, dass wir nicht davonlaufen durften. Wir waren uns bewusst, dass er uns nicht hinterherrennen konnte.

Solange: Genau, wir mussten gehorchen und konnten nicht einfach weggehen. Wenn Mama uns bat, zurückzukommen, taten wir das auch.

Morgane: Mein Papa hat mir erzählt, dass er einmal einen Freund gefragt hat, welcher ebenfalls querschnittsgelähmt und Vater von Zwillingen ist, wie er das machen solle, wenn seine Tochter wegrennt. Er könne ihr doch nicht folgen. Der Freund hat ihm geantwortet: «Du wirst sehen, das wird sie dir nie antun.» Und es stimmt. Ich habe nie versucht, irgendwohin zu rennen, wo mich mein Papa nicht erwischen konnte.

Solange: Das ist wohl angeboren. Und man muss schon auch sagen, dass die anderen Kinder viel wilder waren als wir.

Morgane: Das kann ich mir vorstellen. Wir wussten unbewusst, dass unsere Eltern viel zu bewältigen hatten. Und wir haben versucht, mehr auf das zu achten, was sie uns sagten.

Habt ihr eure Eltern behinderungsbedingt bei Handlungen oder Aufgaben unterstützt?

Moïra: Oh ja! Ich war schon früh für das Kochen und den Abwasch zuständig. Ich glaube aber weniger, dass dies an der Behinderung meiner Mutter lag, sondern weil sie zum einen viel gearbeitet hat und zum anderen wollte, dass ich früh Verantwortung übernehme. Sie war sehr gut organisiert. So hatten wir jedes Wochenende ein Familientreffen für die ganze Planung. Und als sie an Krebs erkrankte, habe ich für sie gekocht und sie geduscht.

Morgane: Mein Papa war schon immer einfallsreich und hat alles so angepasst, dass er die Dinge unabhängig erledigen konnte. Er mag es nicht, wenn man ihm hilft. Als ich klein war, habe ich ihm mal gesagt: «Papa, ich bin da, um dir zu helfen», woraufhin er fast wütend wurde und sagte: «Aber du bist meine Tochter und nicht dazu da, um mir zu helfen.» Ich war ein behütetes Kind und hatte nicht viel Verantwortung. Wenn es nötig war, nach etwas zu greifen oder den Rollstuhl über eine Kante zu schieben, habe ich das natürlich getan. Aber für mich ist das keine Frage des Helfens, sondern eine Gewohnheit. Für mich ist alles, was mit einer Behinderung zu tun hat, ganz normal.

Solange: Ich erinnere mich, dass wir als Kinder in einem Haus mit Treppen wohnten, deren Stufen unten offen waren. Meine Mutter konnte ihre Füsse nicht genug anheben und blieb immer stecken. Also stellten mein Bruder und ich uns jeweils auf eine Seite und hoben ihre Füsse an. Wir halfen auch ab und zu beim Aufhängen der Wäsche. Und noch bevor wir in die Schule kamen, gingen wir einkaufen. Sie gab uns das Geld, die Liste und eine kleine Tasche, und im Dorfladen hat man uns alles vorbereitet. Ich denke, dass wir uns deshalb auch schneller durchschlagen konnten.

Stéphanie: Meine Mutter hat immer alles gemanagt. Aber ich habe bei Computerarbeiten geholfen, kleine Briefe geschrieben und andere administrative Dinge für die Procap-Sektion und andere Vereine erledigt, in denen meine Eltern aktiv waren. Und ich habe meinem Papa Computerunterricht gegeben.

Was habt ihr aufgrund der Behinderung eurer Eltern gelernt?

Solange: Wenn ich ein Problem habe und mich beschweren will, sage ich mir zuerst: «Denk an deine Mutter und daran, was sie tun musste.» Sie ist für mich ein Vorbild. Sie hatte es nicht leicht, aber sie hat durchgehalten und es geschafft. Wenn die Dinge also nicht so gut laufen, halte ich durch. Ich habe von ihr eine gewisse Resilienz und Durchhaltevermögen gelernt.

Morgane: Für mich sind es eher die gesellschaftlichen Aspekte. Wenn eine Person eine Besonderheit hat, die anderen auffällt, sehe ich das nicht unbedingt oder achte nicht darauf. Ich finde auch, dass man nicht über andere Menschen reden soll, weil man ja nicht weiss, was sie erlebt haben.

Solange: So habe ich das noch gar nie betrachtet. Aber ich mag es auch nicht, wenn man über Menschen urteilt. Man hat das Recht, anders zu sein!

Stéphanie: Mein Papa erkrankte im Babyalter an Polio, war oft im Spital und hatte keine leichte Kindheit. Trotzdem habe ich ihn nie klagen hören. Er hat mir beigebracht, Probleme zu relativieren und mir bewusst zu sein, wie viel Glück ich habe, gesund zu sein. Sein Optimismus und seine Charakterstärke waren mir immer ein Vorbild.

Moïra: Mich haben die Behinderung, die Krebserkrankungen und der Tod meiner Mutter gelehrt, positiv und optimistisch zu sein. Ich denke, dass für uns als Kinder von Menschen mit Behinderungen nichts sehr schlimm ist. Wir relativieren viel. Und selbst bei den ernsten Dingen gibt es eine gute Seite. Das Krebsleiden meiner Mutter hat meinen Umgang mit Emotionen und meine Haltung gegenüber dem Tod beeinflusst. Ich habe gelernt, meine Emotionen besser zu kontrollieren. Und der Tod war nie ein Tabuthema, weil wir auch aufgrund ihrer Arbeit sehr früh und sehr oft darüber gesprochen haben. Was ich auch gelernt habe, ist, dass man seine Zeit mit einem Menschen geniessen sollte, solange er da ist. Was ich von meiner Mutter mitnehme, sind all die Erinnerungen an unsere gemeinsamen Aktivitäten.

Stéphanie: Ich glaube, dass Kinder sich an alles anpassen können, solange man ihnen Liebe gibt.