Es braucht ein Erdbeben in den Köpfen
Sonja Häsler ist seit rund fünfzehn Jahren bei Procap Reisen und Sport tätig. Während sie als Fachberaterin arbeitete, war sie unter anderem massgeblich an der Entwicklung des Trekkingrollstuhls Protrek beteiligt. Heute übernimmt sie Mandate für Procap und ist sowohl Mitglied der Sport- als auch der Reisekommission.
Interview: Sonja Wenger, Foto: Daniela Walter
Procap: Sonja, wie bist du mit dem Sport respektive dem Behindertensport verbunden?
Sonja Häsler: Sport war schon immer mein Lebenselixier, und ich bin quasi mit Skiern auf die Welt gekommen. Später war es dann Kunstturnen und Leichtathletik. Ich habe immer Leistungssport auf nationaler Ebene betrieben. Dann hatte ich noch während meiner Ausbildung einen schweren Skiunfall und kam so erstmals in Kontakt mit Rollstuhlsport. Seit einem zweiten Unfall 2005 bin ich auf den Rollstuhl angewiesen und fand im Rollstuhlbadminton eine Sportart, die mich bis heute fasziniert. 2011 habe ich mit meiner damaligen Doppelpartnerin Karin Suter-Erath den Weltmeistertitel im Damendoppel geholt sowie zwei weitere WM- und zehn EM-Medaillen gewonnen.
Was hat dich am Rollstuhl-badminton besonders gereizt?
Es ist die Fahr- und Schlagtechnik in Kombination mit Taktik und Schnelligkeit. Ausserdem finde ich es toll, dass man den Sport auf jedem Niveau auch gegen respektive mit Fussgänger*innen spielen kann. Leider hat Badminton als Sportart im Schweizer Spitzensport einen sehr geringen Stellenwert. In Asien ist das ganz anders. Dort wird es überall gespielt.
Wie ist der Stellenwert von Behindertensport allgemein in der Schweiz?
Alle finden Behindertensport grossartig, aber weil er in der Schweiz kaum sichtbar ist, gibt es kaum Geld dafür. Bis auf ein paar wenige Parasportler*innen kann in der Schweiz niemand davon leben. Beim Badminton gibt es zudem sehr restriktive Werbevorschriften vom Weltverband, die es einem zusätzlich erschweren, Sponsoren zu finden. Ich hatte damals ein jährliches Budget von etwa 60 000 Franken und musste den grössten Teil selbst berappen respektive mich um Sponsoren- und Stiftungsgelder kümmern. Ich habe mir jahrelang nichts geleistet und Rollstuhlbadminton mit Haut und Haaren gelebt. Seit 2020 ist die Sportart eine anerkannte Disziplin der Paralympics, und die Situation hat sich etwas gebessert. Es gibt nun Zugang zu anderen Geldquellen. Aber noch immer muss man in der Schweiz das meiste selbst finanzieren. Auch das ist in Asien anders. Wenn etwa ein südkoreanischer Behindertensportler im Badminton den Weltmeistertitel holt, dann ist er fürs Leben saniert. Wir hingegen hatten damals eine Einladung nach Bern und ein Sackmesser vom Bundesrat bekommen.
Du kämpfst für den vollumfänglichen Zugang von Menschen mit Behinderungen zu allen Sportarten.
Ja, der Breitensport und somit die Gesundheitsförderung liegen mir sehr am Herzen. Die Menschen bewegen sich zu wenig in unserem Land – obwohl Bewegung ein so wichtiger Faktor für die Zufriedenheit und das Körpergefühl ist. Aber meiner Meinung nach ist die Schweiz in Bezug auf Barrierefreiheit nicht nur im Sport, sondern in vielen Bereichen eine Bananenrepublik. Das zeigt sich besonders im internationalen Vergleich. Ich bin oft in Skandinavien. In Schweden etwa herrscht ein anderes Denken. Es wird inklusiv gedacht, und zwar von der gesamten Gesellschaft. Vor einigen Jahren hat man dort die Behindertensportverbände aufgelöst. Die Sportverbände müssen seither auch Angebote im Behindertensport haben. Und das Ganze ohne zwanzig Jahre Übergangsfrist. In Schweden hat auch der kleinste Tante-Emma-Laden in der Provinz eine elektronische Türe sowie eine Rampe. Und wenn ich dort bei einem Ferienhaus frage, ob sie Treppen haben, und wenn ja, wie viele, setzen die Leute alles in Bewegung und bauen oder mieten dir eine stabile Rampe, ohne Zusatzkosten. Das ist dort Ehrensache. In der Schweiz heisst es bei der gleichen Frage einfach, ich könne nicht kommen – dabei wäre das doch meine Entscheidung. In Schweden überlegt man sich, wie man ein Problem lösen kann. Und in der Schweiz sucht man nach Gründen, wieso man etwas nicht tun muss.
Was müsste sich in der Schweiz ändern?
Es bräuchte ein Erdbeben in den Köpfen von Herrn und Frau Schweizer. Wir haben noch immer zu viele Strukturen, die Menschen mit Behinderungen ausschliessen. Wir werden nie als Partner oder Kundinnen oder Patienten angesehen, sondern sind immer nur ein defizitärer Kostenfaktor. Das hat sich vor kurzem wieder bei der Diskussion um die 13. AHV-Rente gezeigt, bei der man die IV-Rente nicht mitgedacht hat. Und als man nach der Abstimmung darauf hinwies, wurde abgewunken, dass nun nicht noch weitere Begehrlichkeiten geweckt werden könnten. Ich finde dies absolut inakzeptabel.
Du bist auch sozialpolitisch aktiv.
Als vor circa zwanzig Jahren der Beschluss gefasst wurde, die Zuständigkeit respektive die Verantwortlichkeit für die Behindertenhilfe vom Bund an die Kantone zu übergeben, habe ich in meinem Wohnkanton Basel-Stadt begonnen, in verschiedenen sozialpolitischen Arbeitsgruppen und Kommissionen mitzuarbeiten. Erst kürzlich wurde in Bundesbern endlich festgestellt, dass in der Schweiz die Voraussetzungen etwa für selbstbestimmtes Wohnen mit Assistenz nicht gegeben sind. Und das zwölf Jahre nach Einführung des Assistenzbeitrags! Aber auch die Strukturen in der Politik sind noch immer nicht für Menschen mit Behinderungen gemacht. Ich bin gespannt, ob sich mit den beiden zusätzlichen Nationalräten mit Behinderungen im Parlament nun etwas verbessert und dadurch auch die Gesellschaft ihre Haltung ändert. Am Ende ist alles Politik. Und in der Politik kann man – genau wie im Sport – nichts bewegen ohne Energie, Kampfeswillen und Durchhaltevermögen.
Informationen über Sonja Häslers sportliche Karriere finden Sie unter folgendem Link:
sonjahaesler1.jimdo.com Link öffnet in neuem Fenster.