Mit «Stop-and-go» zu den Paralympischen Spielen

Noch immer findet Behindertensport in der Schweiz in einer Parallelwelt statt. Dank den Paralympischen Spielen rücken die Leistungen von Profisportler*innen mit Behinderungen zunehmend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Bei den Paralympics 2024 in Paris ist auch das Procap-Mitglied Cynthia Mathez mit dabei.

Text: Sonja Wenger, Illustration: Reto Crameri, Fotos: Markus Schneeberger

Am 28. August 2024 wird es so weit sein: Nach vier Tagen Fackellauf vom britischen Stoke Mandeville – dem Geburtsort des paralympischen Sports – nach Paris wird in der französischen Hauptstadt die Flamme für die Paralympischen Spiele 2024 entzündet.

Mit dabei sein wird auch das Procap-Mitglied Cynthia Mathez. Die 38-jährige Westschweizerin, die im Kanton Solothurn lebt, wird für die Schweiz im Rollstuhlbadminton antreten. Sie belegt in ihrer Sportart derzeit den 3. Weltranglistenplatz. Diesen März hat sie sich für die Teilnahme an den Paralympics im Einzel sowie mit ihrer Spielpartnerin Ilaria Renggli im Doppel qualifiziert.

Vor rund 14 Jahren war bei Cynthia Mathez Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert worden. Seit 2015 ist sie vollständig auf den Rollstuhl angewiesen. «Ich bin schon immer in allen möglichen Sportarten aktiv gewesen», erzählt sie im Gespräch mit Procap. Nach ihrer MS-Diagnose war für sie aber klar, dass sie nun noch mehr Sport treiben müsse, um mit den Folgen der Krankheit zurechtzukommen. Tatsächlich hat sich der Verlauf ihrer Krankheit stark verlangsamt, seit sie Hochleistungssport betreibt. «Das hat mir meine Neurologin bestätigt. Und das zeigt sich auch bei Scans des Gehirns oder Untersuchungen des Rückenmarks.» Dadurch konnte sich Cynthia Mathez bisher ihre Autonomie bewahren – keine Selbstverständlichkeit bei ihrer Krankheit. «Wenn ich in den Ferien nur zwei Wochen lang keinen oder weniger Sport treibe, merke ich das sofort in der Beweglichkeit beispielsweise meiner Hände.»

Von den «Weltspielen der Gelähmten» zu den Paralympics

Mehr Autonomie für Menschen mit Behinderungen dank Sport war auch das Ziel von Ludwig Guttmann. Der deutschstämmige Neurologe und Neurochirurg war 1939 nach Grossbritannien geflohen und hatte noch während des Zweiten Weltkriegs im Krankenhaus von Stoke Mandeville ein Zentrum für Wirbelsäulenverletzungen eröffnet. Auf seine Initiative hin fanden dort 1948 die ersten Sportspiele für Rollstuhlfahrer*innen statt. Zeitgleich mit dem Eröffnungstag der Olympischen Spiele von London massen sich damals ein gutes Dutzend Männer und Frauen mit einer Rückenmarkverletzung im Bogenschiessen.

In den folgenden Jahren wuchs die Teilnehmer*innenzahl konstant, bis 1960 im Anschluss an die Olympischen Spiele in Rom die ersten «Weltspiele der Gelähmten» stattfanden. Erst seit 1988 wird der Begriff Paralympische Spiele – kurz Paralympics – verwendet. Sie sind wie die Olympischen Spiele selbst in Sommer- und Winterspiele unterteilt und finden heute am selben Ort statt. Seit 2012 müssen Städte in ihren Bewerbungen um die Ausrichtung der Olympischen Spiele stets auch die Paralympics miteinbeziehen.

Allerdings sind nicht alle paralympischen Sportarten für alle Behinderungskategorien zugelassen. So sind Menschen mit einer Hörbehinderung sowie Personen mit Organtransplantationen ausgeschlossen, da sie über ihre eigenen Weltspiele (die Deaflympics respektive die World Transplant Games) verfügen. Und für Menschen mit einer kognitiven Behinderung bestehen seit 1968 die Special Olympics. Diese sind heute in 174 Ländern vertreten und ebenfalls in Sommer- und Winterspiele unterteilt. An den Veranstaltungen von Special Olympics Switzerland nehmen regelmässig Procap Sportgruppen teil. Die World Winter Games werden 2029 in der Schweiz stattfinden.

Die perfekte Kombination von Taktik, Ausdauer und Bewegung

Bevor Cynthia Mathez zum Profisport wechselte, musste sie nach ihrer MS-Diagnose erst einmal eine geeignete Rollstuhlsportart finden und probierte verschiedene aus, darunter auch Tennis und Rugby. Doch erst im Badminton fand sie ihre Berufung. Sie erinnert sich noch gut daran, wie sie erstmals Rollstuhlbadminton ausprobieren konnte. «Ich habe mit dem Schläger meiner Mutter gespielt, die vor vierzig Jahren selbst aktiv war.» Der Schläger sei im Vergleich zu ihrem aktuellen Gerät allerdings «so schwer wie eine Bratpfanne» gewesen, erzählt sie mit ansteckendem Lachen. Ihr Schläger heute wiege gerade mal 78 Gramm, sei den alten Modellen aber von der Stabilität und der Flexibilität her um ein Vielfaches überlegen.

Wenn Cynthia Mathez über Rollstuhlbadminton spricht, ist eine grosse Liebe zu den Details spürbar. «Mich fasziniert an diesem Sport einfach alles», sagt sie. «Die Kombination von Strategie und Taktik, von Ausdauer und Geschwindigkeit, die Präzision der Bewegungsabläufe, die Komplexität des Spiels an sich.» Rollstuhlbadminton bestehe konstant aus «Stop-and-go», also Schlagen, Rollen und Manövrieren mit beiden Händen und dem Schläger in der Hand, Stoppen, Schlagen. «Im Training wird dafür jeder einzelne Bewegungsablauf 600-mal geübt und analysiert.» Nur so könne man das für die Paralympics nötige Niveau erreichen, wo sich die Besten der Welt messen. Neben der regulären Physio- und Ergotherapie, die sie zur Behandlung ihrer MS benötigt, trainiert Cynthia Mathez deshalb jede Woche viele Stunden im Kraftraum und in der Halle mit ihrem Trainer und ihrer Spielpartnerin.

In Paris erstmals mit Live-Publikum

Das Trainingsprogramm von Cynthia Mathez zeigte schnell Resultate. Bereits 2017 nahm sie in Südkorea an ihrer ersten Weltmeisterschaft im Rollstuhlbadminton teil, an der sie im Doppel mit ihrer damaligen Spielpartnerin Karin Suter-Erath das Viertelfinale erreichte. An der EM 2018 im französischen Rodez wurden die beiden Europameisterinnen. Kurz darauf ging ein Traum in Erfüllung: Für die Paralympics 2020 in Tokio war Rollstuhlbadminton erstmals als Disziplin zugelassen. Aufgrund der weltweiten Covid-Pandemie fanden die Spiele allerdings 2021 statt – und weitgehend ohne Publikum.

Für Tokyo hatte sich Cynthia Mathez ebenfalls in beiden Kategorien qualifiziert. Im Einzel schaffte sie es auf den 7. Platz, und mit dem 4. Platz im Doppel konnte sie sich mit Karin Suter-Erath gegen die sehr starke asiatische Konkurrenz in dieser Sportart durchsetzen.

Aufgrund der Verschiebung von Tokio standen für die Vorbereitungen auf Paris 2024 allerdings nur drei statt der üblichen vier Jahre zur Verfügung. «Das war wirklich eine Herausforderung», erzählt Cynthia Mathez, denn für die Qualifizierung müsse man neben dem intensiven Training auch viele internationale Turniere absolvieren und sei deshalb oft auf Reisen. Dafür werden die Paralympics 2024 ein kleines Heimspiel für die Westschweizerin, die bilingue ist und oft in Frankreich trainiert. «Ich freue mich riesig darauf, weil Paris für meine Familie und Freunde so nahe ist und sie diesmal dabei sein können», erzählt sie.

Auf der steten Suche nach dem Flow

Bei der Antwort auf die Frage, wie sie mit dem Druck umgehe, wenn im Stadion und weltweit Millionen Menschen zusähen, kommt das Gespräch auf das Thema mentale Stärke. «Genau für solche Fragen habe ich neben dem Training auch einen regelmässigen Austausch mit einem Mental Coach und einer Sportpsychologin», erzählt Cynthia Mathez. In der Sportpsychologie arbeitet man etwa daran, nach einer Verletzung das Vertrauen in den eigenen Körper wiederzuerlangen oder eben mit dem Druck einer Wettkampfsituation umzugehen. «Wenn wir trainieren, geben wir 100 Prozent. Aber im Wettkampf gibt es viele Faktoren, aufgrund derer sich das Spiel verändert, und dann kann man vielleicht nur 60 oder 70 Prozent geben.»

Ihr Mental Coach wiederum gibt ihr viele Tipps, etwa für Atemübungen oder im Umgang mit Emotionen. Es gehe im Hochleistungssport stets auch darum, eine gute Balance zu finden. «Man darf nervös sein, aber nicht zu stark. Man darf locker sein, aber nicht zu sehr. Nur wenn alle Bedingungen und alle Emotionen stimmen, kommt man in den sogenannten Flow», erzählt Cynthia Mathez und gerät beinahe ins Schwärmen. «Beim Flow ist alles perfekt, die Dinge sind im Fluss, und alles passt.» Doch der Flow, den sich alle Athlet*innen wünschten, passiere nur sehr selten. «Ich habe es in meiner Karriere nur zweimal erlebt.»

Fehlende Unterstützung bei Randsportarten

Um Rollstuhlbadminton auf ihrem Niveau trainieren zu können, ist Cynthia Mathez jede Woche zwischen ihren verschiedenen Trainingsorten gut 700 Kilometer mit dem Auto unterwegs. «In der Schweiz gibt es – anders als zum Beispiel in Frankreich – für Rollstuhlbadminton kein Sportzentrum, in dem eine umfassende Infrastruktur für Training, Unterkunft und alle sportlichen und medizinischen Bedürfnisse von uns Athlet*innen zur Verfügung steht», sagt Cynthia Mathez.

Auch in anderen Bereichen sieht sie noch viel Handlungsbedarf im Bereich Spitzensport, ob für Menschen mit oder ohne Behinderungen. «Wenn es sich nicht gerade um populäre Sportarten wie Ski, Tennis oder Fussball handelt, nehme ich die Schweiz nicht als sehr sportaffin wahr», sagt sie. «Berufssportler*innen geniessen bei uns nicht dieselbe Anerkennung oder Medienpräsenz wie in anderen Ländern.» Die Medienpräsenz sei jedoch wichtig für die Sichtbarkeit der Sportart und ausschlaggebend dafür, wie viel Unterstützungsgelder vom jeweiligen Sportverband oder von Sponsoren zur Verfügung stünden.

Wenn es sich dann noch um eine Randsportart handelt, wie es in der Schweiz bei Badminton der Fall ist, bedeutet das für Athlet*innen wie Cynthia Mathez, dass sie den grössten Teil ihres Trainingsbudgets selbst aufbringen müssen. Da die Suche nach Sponsoren jedoch sehr viel Zeit in Anspruch nimmt, hat Cynthia Mathez inzwischen einen Sportmanager angestellt. Doch auch dann ist es nicht leicht. Immer wieder muss sie darum kämpfen, ernst genommen zu werden. «Viele Menschen sehen bei mir zuerst die Behinderung. Und erst in zweiter Linie nehmen sie mich als Profisportlerin wahr.»

Trotz dieser Widrigkeiten bleibt Cynthia Mathez am Ball. «Ich mache es, weil ich diesen Sport und den Wettkampf liebe.» Angesprochen auf ihre Pläne nach Paris, ist Cynthia Mathez realistisch. «Ich bin jetzt 38 Jahre alt und habe MS. Meine Sportkarriere kann jederzeit vorbei sein. Aber wenn es nach mir geht, werde ich auch noch die Paralympics 2028 in Los Angeles bestreiten.»

www.cynthia-mathez.ch Link öffnet in neuem Fenster.

Quellen