«Wir müssen eine gute Balance finden»

Vor genau zwei Jahren hat Irene Hodel nach der Pensionierung von Peter Kalt die Funktion der Co-Geschäftsleitung von Procap Schweiz übernommen. Ende Juli tritt nun auch Martin Boltshauser in den Ruhestand und übergibt seine Stelle an Sabina Schwyter. Das Procap Magazin hat sich für einen Blick nach vorne mit allen dreien an den Tisch gesetzt.

Interview: Sonja Wenger, Fotos: Corinne Vonaesch

Titelbild: Die Chemie stimmt: Irene Hodel, Sabina Schwyter, Martin Boltshauser (v. l.).

Procap: Sabina, du beginnst deine Stelle als Co-Geschäftsleiterin bei Procap Schweiz Anfang Mai, wir führen unser Gespräch jedoch Anfang April. Wie nimmst du Procap jetzt noch von aussen wahr?

Sabina Schwyter: Es ist sehr interessant, wo und in welcher Form einem Procap plötzlich begegnet, wenn die Wahrnehmung dafür geschärft ist. Ich erhalte viele Rückmeldungen von Menschen aus meinem Umfeld, die mir Geschichten erzählen. Eine Nachbarsfamilie zum Beispiel, deren Vater einen schweren Unfall hatte und erst zu seinem Recht kam, nachdem er von Procap Unterstützung erhalten hatte. Der Rechtsdienst oder die Procap Bauberatung werden allgemein als sehr stark und positiv wahrgenommen. Plötzlich sehe ich auch überall die Säulen für die Fremdwährungssammlung, die mir früher nie aufgefallen sind. Und durch die Inklusions-Initiative sind Menschen mit Behinderungen inzwischen stärker in den Medien und in den sozialen Medien präsent als früher.

Hast du einen persönlichen Bezug zu Menschen mit Behinderungen?

Sabina Schwyter: Seit einigen Jahren engagiere ich mich in einer Patientenorganisation und bin so Schritt für Schritt in das Thema Behinderungen und IV reingerutscht. Ich hatte schon früher Verbandsarbeit gemacht und realisiert, wie spannend das ist. Also habe ich begonnen, mich nach entsprechenden Stellen umzusehen.

Was ist dein beruflicher Hintergrund?

Sabina Schwyter: Ich habe ursprünglich Informationswissenschaft in Genf studiert und danach erst einmal in einem Projekt gearbeitet, bei dem wir Strukturen aufgebaut haben, dank derer sich Studierende und Firmen miteinander vernetzen konnten. Später hat der Dachverband der Fachhochschulen jemanden gesucht, der Verbandsentwicklung in der Romandie macht. Das war zunehmend ausgebaut worden, unter anderem mit politischer Arbeit im Bildungsbereich. Nach der Geburt meines zweiten Kindes habe ich dann mehrere Jahre in der Berufsberatung des Kantons Aargau gearbeitet. Nun sind meine Kinder älter, mein Mann hat sich beruflich neu orientiert, und ich hatte Lust auf eine Tätigkeit, mit der ich wieder mehr bewegen kann. Ich habe grossen Respekt vor dem Schritt in die Geschäftsleitung von Procap und vor den unterschiedlichen Bedürfnissen aller Beteiligten. Aber die Mechanismen der Verbandsentwicklung auch in föderalistischen Strukturen sind mir sehr vertraut.

Irene, du wirst zusammen mit Sabina die Geschäftsleitung von Procap innehaben. Worauf freust du dich dabei?

Irene Hodel: Zwischen Sabina und mir stimmt die Chemie. Sie ist sehr kompetent, und wir ergänzen uns gut. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Sehr positiv finde ich auch, dass sie mit 42 Jahren verhältnismässig jung ist, was der Organisation guttun wird. Zudem ist sie fast bilingue, was ebenfalls ein wichtiger Aspekt bei unserer Arbeit ist.

Martin, fällt es dir leicht, deine Funktion als Ko-Geschäftsleiter an Sabina abzugeben?

Martin Boltshauser: Absolut. Procap gibt es seit 1930, und ich war fast ein Drittel dieser Zeit mit an Bord. Es war mir immer ein Anliegen, dass der Verband gut weitergeführt wird. Ich bin deshalb erleichtert, dass wir mit Sabina eine so gute Lösung gefunden haben. Es freut mich auch sehr, dass nun zwei Frauen in der Geschäftsleitung sind. Das Konzept einer Co-Geschäftsleitung hat sich sehr bewährt. Aber es ist wichtig, dass diese beiden Personen gut zusammenarbeiten und nach aussen eine Einheit bilden. Irene und ich haben uns gegenseitig immer unterstützt, und unsere Zusammenarbeit war geprägt von Vertrauen und einem freundschaftlichen Umgang. Es gibt im Alltag genug Herausforderungen. Wenn man diese aber gemeinsam anpacken kann, ist alles einfacher.

Irene Hodel: Es wird auch keine Rochaden geben, da Sabina das neu geschaffene Ressort Verbandsentwicklung und Interessenvertretung übernimmt. Alle bestehenden Ressorts bleiben weiterhin in sehr guten Händen. Und die Leitung des Rechtsdienstes, die bei Martin lag, wird von unserer Anwältin Irja Zuber übernommen. Alle anderen Verantwortlichkeiten bleiben gleich.

Wie werdet ihr die Stabübergabe organisieren?

Martin Boltshauser: Ich werde bis zu meinem Weggang Ende Juli wöchentlich mit Sabina zusammensitzen und versuchen, so viel wie möglich weiterzugeben. Wie Irene bereits sagte, funktionieren alle Ressorts sehr gut. Sabina kann sich also darauf konzentrieren, den Verband selbst kennenzulernen.

Irene Hodel: Auch ich werde einen regelmässigen Austausch mit Sabina haben.

Sabina Schwyter: Am Anfang werde ich erst einmal darum bemüht sein, jeden Bereich von Procap kennenzulernen. Ich muss verstehen, wer was macht, wo die Herausforderungen in jedem Bereich liegen, wo eventuell etwas klemmt und wohin wir gemeinsam wollen – und dies nicht nur beim Dachverband auf nationaler Ebene, sondern auch bei den Regionen und Sektionen. Erst dann kann ich die Verbandsentwicklung anpacken.

Stichwort Herausforderungen: Wo hat Procap in den nächsten Jahren den
grössten Handlungsbedarf ?

Irene Hodel: In der Sicherstellung der Verbandsfinanzierung. Aktuell werden nur rund 40 Prozent unserer Dienstleistungen vom Bundesamt für Sozialversicherungen subventioniert. Den Rest müssen wir selbst aufbringen, sei es über kantonale Gelder, Spenden, Legate oder andere Einnahmequellen.

Martin Boltshauser: Wir sind auf gutem Wege und haben soeben ein neues Fundraising-Konzept verabschiedet. Doch die finanzielle Konsolidierung ist sehr wichtig. Ohne Geld können wir alle unsere guten Ideen nicht umsetzen. Deshalb müssen wir immer eine gute Balance finden zwischen der Finanzierung und der Entwicklung unserer Dienstleistungen. Bedenkt man aber, dass die meisten sozialen Verbände mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, machen wir es ganz gut. Es gibt immer irgendwo etwas zu verbessern. Aber ich denke, wir haben als Verband keine ganz grossen Baustellen.

Der Bedarf nach unseren Dienstleistungen ist um ein Vielfaches höher als die Ressourcen.

Irene Hodel: Das ist so und ein grosses Dilemma für uns. Aber ohne ausreichende Finanzierung können wir unser Dienstleistungsangebot in der heutigen Form nicht aufrechterhalten. Deshalb werden wir hier genau hinsehen, was wichtig ist, und auch beginnen müssen, manchmal Nein zu sagen.

Sabina Schwyter: Ich bin sicher, dass die Verbandsentwicklung hier eine wichtige Rolle spielen wird. Wir müssen Procap nach aussen so aufstellen, dass wir nicht nur zeigen, wie wirksam wir sind, sondern auch die nötigen Finanzen generieren können, welche wir für unsere Arbeit benötigen.

Martin Boltshauser: Ich möchte aber hervorheben, dass man Sabina Zeit geben muss und sie nicht alle Probleme auf einmal lösen kann. Sie muss ihr neues Ressort erst einmal aufbauen. Und ihre Aufgabe ist nicht leicht: Wir müssen den Verband weiterentwickeln, dürfen aber gleichzeitig nicht mehr Geld ausgeben. Ausserdem sind sich bei solchen Veränderungen nicht immer alle einig. Und es gibt vermutlich gar keine einzelne Superlösung, die für den ganzen Verband funktioniert, sondern nur verschiedene Lösungsansätze. Wenn man diese findet, hat man aber schon viel erreicht.

Martin, was möchtest du deiner Nachfolgerin Sabina mit auf den Weg geben?

Martin Boltshauser: Dass sie ihren Weg geht und ihre Stärken nutzt. Und dass sie dort, wo sie Hilfe braucht, sich diese holt und auch bekommt. Aber vor allem, dass sie nicht in die Fussstapfen von jemand anderem treten möge, sondern ihre eigenen Abdrücke hinterlässt.

Sabina Schwyter: Das habe ich vor. Ich freue mich auf den Start und darauf, alle und alles kennenzulernen.

Procap Schweiz

Irene Hodel und Sabina Schwyter verstehen sich gut
Irene Hodel ist weiterhin für die Finanzen zuständig und Sabina Schwyter übernimmt das neu geschaffene Ressort Verbandsentwicklung und Interessenvertretung.